Unlearning – Vergessen als Lernstrategie?!

Eine der wichtigsten Fragen der Pädagogik ist vermutlich:

Wie lernen Menschen am besten neues Wissen oder erwerben neue Fähigkeiten?

In den meisten Fällen stellen wir in diesem Prozess nicht die Frage: Wie können wir bestehendes Wissen am besten vergessen?

Doch genau dieses Prinzip liegt dem Konzept des Unlearning zu Grunde.

Verlernen oder Vergessen als Lernstrategie? Es kann tatsächlich Fälle und Situationen geben, in denen wir erst einmal Platz schaffen müssen, bevor neues Wissen Raum finden kann.

Das deutsche Wort „verlernen“ ist hier vielleicht auch einfach keine gute Entsprechung. Denn Verlernen bedeutet normalerweise einen eher passiven Vorgang. Wir verlernen Fähigkeiten oder vergessen Wissen, wenn wir es länger nicht gebrauchen.

Der Begriff Unlearning beschreibt jedoch einen wesentlich aktiveren Prozess. Was beinhaltet das Konzept genau und wann kann es anwendbar sein?

Vergessen = Lernen?

Wie stellen wir uns Lernen üblicherweise vor?

Wir wiederholen Vokabeln, lesen Texte, schauen Videos – und schon existieren neue Pfade in unserem Gehirn. Das ist natürlich sehr vereinfacht und bezieht auch noch nicht den Faktor Wiederholung ein.

Aber grundsätzlich veranschaulicht es, dass wir uns Lernen meistens als Hinzufügen von Wissen vorstellen. Dann begreifen wir Lernen als diesen additiven Prozess.

Dann stellen wir uns ebenfalls unser Gehirn als eine Art weiße Leinwand vor, auf die wir beliebig neues Wissen malen können.

Doch unser Gehirn ist in der Realität schließlich keinesfalls unbeleckt – gerade, wenn wir von Erwachsenen sprechen. Unsere kognitive Leinwand ist alles andere als weiß und leer, sie ist bereits mit vielen Jahren angesammelten Wissens gefüllt.

Wann kann Unlearning nötig sein?

Und tatsächlich liegt hier nicht nur isoliertes Wissen, sondern tief verwurzelte Denkstrukturen.

Genau diese sind oftmals auch ein Lernhindernis für uns oder auch Teams. Menschen neigen insgesamt sehr dazu, einmal stabilisierte Wege immer weiter auszutreten – selbst wenn sie gar nicht ideal funktionieren.

Sicherlich können wir uns hier alle sogar persönliche Beispiele vorstellen. Es kann sich auch nicht nur um konkretes Wissen handeln, sondern auch um Meinungen oder Haltungen.

Genau dann kann additives Lernen, also ein reines Hinzufügen von Wissen, meistens gar nicht die richtige Strategie sein. Stattdessen müssen wir uns erst einmal die bestehenden Strukturen bewusst machen und diese durchbrechen.

Natürlich wird ein solcher Prozess immer komplexer, je mehr Menschen, Teams oder sogar ganze Hierarchien er einbezieht.

Alles muss raus?

Es kann also durchaus Lernsituationen geben, in denen wir uns erst mit „überholtem“ Wissen auseinandersetzen müssen.

Dabei ist es nicht unbedingt zwangsweise so, dass ganze Wissensbereiche plötzlich überflüssig werden. Vielmehr sind meistens Teilbereiche betroffen – daher braucht es auch eine besonders bewusste Betrachtung.

Ein einfaches persönliches Beispiel, das sicherlich viele Menschen kennen: Du hast eventuell sehr lange einen physischen Terminkalender genutzt und hast zu einem Zeitpunkt angefangen, stattdessen einen virtuellen zu nutzen.

Um dies umzusetzen hast Du nicht gänzlich alles vergessen oder verlernt, das Du über Termin- und Zeitplanung wusstest. Du hast vielmehr verlernt, eine bestimmte Sache auf eine bestimmte Weise zu tun.

Es gibt also nicht immer deutliche Trennlinien zwischen „altem“ und „neuem“ Wissen, sondern viele Überschneidungen. Aber es zeigt, wieso eine regelmäßige Revision unserer Wissensbereiche nötig sein kann.

Wie geht aktives Verlernen?

Genau das ist der Kernbereich des Unlearning. Es soll dafür sorgen, dass wir besonders viel persönliches und berufliches Wachstum erleben.

Denn natürlich sind bekannte Wege in den meisten Fällen bequemer und, zumindest zu Beginn, vielleicht sogar schneller. Es braucht immer ein wenig mehr Anstrengung, sich neue Arbeitsweisen anzueignen oder sich diesen grundsätzlich zu öffnen.

Unlearning soll sich aber eben nicht nur unbedingt auf berufliche Kompetenzen konzentrieren, sondern schließt auch Meinungen, Haltungen und mentale Modelle ein.

Leitfragen wie diese können uns bei der Überprüfung dieser helfen, wenn wir uns regelmäßig damit befassen:

  • Woher stammen meine derzeitigen Überzeugungen über das Leben und die Arbeit?
  • Wie dienen sie mir heute noch?
  • Unterstützen meine Annahmen mein jetziges und künftiges Ich?
  • Unterstützen meine derzeitigen Fähigkeiten die Person, die ich werden möchte?
  • Machen mich meine täglichen Gewohnheiten und Entscheidungsprozesse zu einem „besseren“ Menschen oder halten sie mich zurück?
  • Sind meine Problemlösungsansätze heute noch relevant?

Wenn wir uns mit unseren aktuellen Wissensbeständen und Meinungen kontinuierlich kritisch auseinandersetzen, eröffnen wir immer neue Perspektiven.

Es kann uns auch dazu bewegen, uns überhaupt erst mit neuen und unbekannten Dingen zu befassen. Denn vorgefasste Meinungen oder Bequemlichkeit halten uns zu oft davon ab.

Wandel als Konstante

Denn natürlich sind wir alle ein wenig bequem, das liegt gewissermaßen in der menschlichen Natur.

Ständig alles neu zu machen und zu denken, würde uns schließlich auf Dauer sehr viel Zeit und Nerven kosten. Wir brauchen an vielen Stellen Routinen, um effizient zu funktionieren.

Genau hier kann eben aber auch eine Stolperfalle für unser Wachstum liegen!

Auch in Teams oder Unternehmen werden wir aber häufig mit dieser Einstellung konfrontiert: „So laufen die Dinge hier nunmal“. In beruflichen Kontexten kommen diese Aspekte oftmals sogar noch hierarchisch von oben, was die Lage immer weiter festigt.

Doch auch die Welt steht nicht still und es kann uns nur zuträglich sein, uns mit verschiedenen Perspektiven auseinanderzusetzen – gerade auch mit Denkweisen, die uns sehr unvertraut oder sind oder sogar zunächst widerstreben.

Denn zusammengefasst sind dies die wichtigsten Gründe, aus denen wir uns beim Lernen auch mehr mit unserem bestehenden Wissen befassen und aktiv verlernen sollten:

Entfachte Kreativität

Wenn wir Wissen und Meinungen als weniger statisch betrachten, überträgt sich das auf unser Tun und auf unser ganzes Selbst.

Veränderung wird als positive Konstante begriffen und wir sind offener und kreativer in unserer Arbeitsweise und Problemlösung.

Perspektive

Neue Perspektiven zu sehen und die eigenen regelmäßig zu hinterfragen, ist gesund. Geistige Starrheit hält uns in einem eingeschränkten Blickwinkel auf die Welt, der ihre bunte Vielfalt gar nicht abbilden kann.

Wenn wir aktiv Verlernen entwickeln wir auch mehr Widerstandsfähigkeit und Flexibilität – Kernkompetenzen in der modernen Arbeitswelt.

Geweckte Neugierde

Wenn diese Offenheit wirklich verinnerlicht wurde, werden wir auch ganz natürlich immer neugieriger.

Dann suchen wir immer aktiver neues Wissen und neue Perspektiven – denn Neugierde befeuert Lernfreude!

Außerdem sorgt eine gesunde Neugierde dafür, dass wir grundsätzlich weniger voreingenommen urteilen und auch das macht uns kreativer. Wir entwickeln uns also kontinuierlich weiter, fördern persönliches und berufliches Wachstum und lernen lebenslang.

Fallen Dir persönliche Beispiele und Situationen ein, in denen Du oder ein Team aktiv alte Strukturen verlernen musstet?